Projekt Ende

Am Freitag, den 07.02, um 15.09 ist Caroline in den Tod gegangen. Bewusst, mit erhobenem Haupt und voller Stolz.
Für mich hat sich in dieser Zeit, in der ich Caroline begleiten durfte, sehr viel verändert. Meine Einstellung zum Tod und insbesondere zum Freitod hat klare Strukturen bekommen. Erst jetzt – nach Carolines Tod – habe ich eine eigene, ganz persönliche Meinung zum Thema Freitod.

Es kann nicht sein, dass es todkranken Menschen legal nicht möglich ist, in den geplanten und begleiteten Tod zu gehen. Es kann nicht im Interesse unseres Landes sein, zu erwarten, dass sich die betroffenen Personen auf die Bahngleise legen und wir die Reste Ihrer Körper von den Planken kratzen. Vielmehr muss es möglich sein, in Würde zu sterben, nach den eigenen Vorstellungen undWünschen. Auch ist es nicht schwer, zweifelsfrei zu definieren, wem die Möglichkeit zum Sterben auf Rezept gegeben werden sollte.

Meiner Meinung nach darf die Grundlage dafür, dass jemand in den freiwilligen Tod geht, immer nur eine nicht heilbare Krankheit sein. Erst wenn drei unabhängige Ärzte dies dem Patienten bestätigen, sollte der Weg für den legitimierten Freitod offen sein.

Natürlich gilt das „Recht“ nicht bei Personen, die in einer Lebenskrise einfach nicht mehr leben wollen.
Hier stehen wir als Gesellschaft in der Verantwortung, um die Betroffenen davon zu überzeugen, wie lebenswert das Leben doch ist. Nehmen wir diese Menschen mit und fangen wir sie auf.
Gleichzeitig ermöglichen wir unheilbar kranken Menschen, in Würde und im Beisein ihres gewünschten Umfeldes sterben zu dürfen. Das Recht auf persönliche Selbstbestimmung hat hier nach meiner Auffassung oberste Priorität.

Hier geht mein Projekt Todestag zu Ende. Es war für mich bis jetzt das mit Abstand bewegendste Projekt überhaupt.
Caroline war eine unendlich starke und selbstbewusste Frau. Anfangs hatte ich sehr viele Vorurteile und Bedenken gegenüber dem Thema Tod.
Der ergreifendste Moment im gesamten Projekt war das letzte Gespräch Carolines mit ihrem Sohn Stefan via Face Cam wenige Minuten vor der Einnahme des Todescocktails.
Nie zuvor zerriss es mein Herz so sehr, nie zuvor verfluchte ich den Gott, an dessen Existenz ich sowieso immer zweifelte. Dieser unglaubliche Schmerz, den Stefan empfand, lässt sich kaum in Worte fassen.
Ich werde niemals Carolines letzten Atemzug vergessen, dieses Ausatmen, das so unglaublich in die Tiefe ging. Es ist kaum in Worte zu fassen.

Carolines letzte Minuten (nach dem Eintreten der Bewusstlosigkeit) wurden von mir mit ihrem Einverständnis aufgezeichnet. Diese Filmaufnahmen werde ich zusammen mit meinem Buch „Todestag“ an die Adresse des Bundeskanzleramtes senden. Vielleicht wird dann über eine Gesetzeslage nachgedacht und es werden die entsprechenden Änderungen vorgenommen, sodass es in Deutschland möglich wird, in Würde auf Rezept zu sterben.

Meine Hochachtung gilt dem Pflegepersonal, den Krankenschwestern, den Ärzten, den Hospizmitarbeitern und all den vielen anderen Menschen, die sich jeden Tag und jede Nacht mit der Materie Tod beschäftigen und so unendlich viele Menschen beim Sterben begleiten und ihnen helfen.

Mein Buch „Todestag“ erscheint zum 15.03.2014 im Buchhandel.

Vorläufiges Blogende

DAS LETZTE WEINACHTEN
Zuerst einmal muss ich mich bei meinen treuen Lesern entschuldigen, dass ich diesen Blog in den letzten Wochen so vernachlässigt habe.
Dies hat verschiedene Gründe, der Hauptgrund liegt darin, dass der Todestag von Caroline immer näher kommt. In den letzten Wochen fanden noch unzählige Gespräche zwischen allen Beteiligten statt. Ich kann die Inhalte dieser Gespräche erst nach Carolines Tod wiedergeben. Durch diesen BLOG ist leider auch die „Schmuddel-Presse“auf das Thema und den aktuellen Fall aufmerksam geworden.
Ich werde an keiner Berichterstattung mitarbeiten, die vor „Sensationsgeilheit“ die Intention des Themas verfehlt. Die Medien können erbarmungslos berichten, Einschaltquote um jeden Preis lautet die Devise. Das ist auch der Grund, warum ich den offiziellen Todestag nicht bekannt geben werde. Lediglich ein kleiner Kreis meiner engsten Vertrauten kennt diesen Termin.
In den letzten Wochen wurde ich oft von Lesern gefragt, ob ich Angst vor Carolines Todestag habe. Ja, Angst habe ich ohne wenn und ohne aber. Ich habe Angst, dieser Herausforderung, jemanden bis in den Tod zu begleiten, nicht gerecht zu werden. Ich habe Angst zu versagen, wenn die letzten Minuten anbrechen. Ich habe Angst, Carolines letzte Beichte abzunehmen. Ich habe Angst, Stefan zu erzählen, dass seine Mutter tot ist. Ich habe vor so vielem in diesem Projekt Angst.
Aber ich werde es durchziehen, ein Zurück wird es für mich nicht mehr geben. Ich werde mit der Dokumentation über den Ablauf des Freitodes erst am Todestag beginnen und ausschließlich über Twitter berichten.

Was wünsche ich Caroline? Ich wünsche ihr, dass sie die letzten Tage und das letzte Weihnachten mit ihrerm Sohn und ihrem Mann trotz dieses grausamen Schicksals ganz intensiv verbringen kann. Weiterhin hoffe ich, dass sie diese Zeit möglichst schmerzfrei übersteht.
Mein nächstes Treffen mit Caroline wird am Flughafen sein, wenn wir gemeinsam in die Schweiz fliegen.

Was ich meinen Lesern wünsche? Leben Sie, wenn irgendwie möglich, in voller Intensität.
Unser Leben ist zu schade, um Illusionen nachzujagen. Lieben Sie den, den Sie lieben möchten. Unternehmen Sie das, was Sie schon immer unternehmen wollten. Leben Sie.
Suchen Sie Ihr persönliches Glück. Kämpfen Sie um das Glück. Stillstand ist Rückschritt.

In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern eine besinnliche Weihnachtszeit und viel Erfolg auf der Suche nach dem persönlichen Glück.

Ihr
Martin Bühler
http://www.Autor-Martin-Buehler.de

29.10.2013

Heute hatte ich erneut ein Gespräch mit Caroline. Ich bin immer überrascht, wenn ich sie treffe. Ihre Erkrankung ist jetzt so „sichtbar“. Jede Woche zehrt an ihrem Körper, der Krebs hat gesiegt. Das weiß ihr Körper und gibt sich selbst auf. So kommt es mir zumindest vor.
Ich habe heute viel Privates mit ihr gesprochen. Unter anderem ging es darum, was ich hier schreibe. Sie hat Bedenken, dass ihr Pseudonym auffliegt. Der Name Caroline ist natürlich nur von mir gewählt worden. Also werde ich mich zukünftig mit Detailinfos etwas zurückhalten .
Ich hoffe, Ihr versteht das.
Ein großes Problem liegt noch in der Tatsache, dass Caroline so gläubig ist. Sie wünscht sich, dass ihr vor ihrem Tod die letzte Beichte abgenommen wird.
Meine spontane Reaktion war die Aussage: „Es kann doch nicht so schwer sein, einen Priester zu finden, der die Beichte abnimmt.“ Aber das ist falsch, sie hat schon alles versucht. Spätestens dann, wenn sie bei den angesprochenen Geistlichen das Thema Freitod erwähnt, wird sie abgelehnt.
Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Lange habe ich mit Ihr darüber diskutiert.
Nun versuche ich, jemanden zu finden, ihr fehlt die Kraft dazu.
Hier im Blog werde ich veröffentlichen, bei wem ich angefragt habe und wer mit welcher Begründung abgelehnt hat. Ich werde so versuchen, öffentlich diejenigen an den Pranger zu stellen, denen das Eisen “ Freitod“ zu heiß ist.
Sollte ich niemanden finden, dann werde ich es machen, wie das funktioniert, weiß ich nicht.
Aber ich werde ihr beim Leben meiner Tochter schwören, alles, was Sie mir im Vertrauen sagt, mit in mein Grab zu nehmen. Und ich werde mich informieren, wie eine Beichte abgenommen wird.

Vor einigen Tagen habe ich mit Carolines Arzt gesprochen. Er kümmert sich wirklich toll um sie und wendet die zur Zeit aktuellsten Schmerztherapien an. Daher ist sie größtenteils schmerzfrei, mit dem Nebeneffekt, dass sie sehr viel schläft.
Ich denke gerade in diesen Momenten an die vielen Erkrankten, die das gleiche Schicksal trifft, die sich aber keinen Privatarzt leisten können …

Das Verschwinden von Stefan

Viele von Euch haben es ja über Twitter und Facebook mitverfolgt. Ich bekam einen Anruf von Caroline, dass Stefan nicht von der Schule zurückgekommen sei. Mir war klar, dass Stefan sich nichts antun würde, schon alleine wegen Caroline nicht, dennoch hatte ich Angst, die Situation könnte eskalieren. Stefan ist mit seinen 11 Jahren wirklich vernünftig und die Situation hat ihm einen Teil seiner Kindheit geraubt, er wirkt fast schon wie ein Erwachsener. Ich sagte Caroline zu, nach Hamburg zu kommen und nach Stefan zu suchen. Bei unserem letzten Treffen auf Westerland hatte mir Stefan erzählt, wo er hingeht, wenn er nachdenken muss und einfach alleine sein will. Stefan rief nach der Schule (es sind zwar Ferien in Hamburg, er ging aber mittwochs und donnerstags zur privaten Nachhilfe) zu Hause an und sprach auf dem Anrufbeantworter, dass er erst später kommen würde. Somit hatte ich keine Sorge um ihn. Eltern sehen das natürlich anders.

Auf meinem Weg nach Hamburg kam kurz vor Elmshorn der Anruf, dass Stefan nach Hause gekommen war. Da ich nun mal schon fast in Hamburg war, fragte ich an, ob Stefan Lust habe, mit mir zusammen zum Essen zu gehen. Stefan sagte sofort zu. Kurze Zeit später trafen wir uns in Hamburg City und gingen zu meinem Hotel ( B&B in der Stresemann Straße ). Dort legte ich meine Sachen ins Zimmer und schlug den Spanier im die Ecke vor. Stefan war unglaublich entspannt, er freuet sich einfach, von zu Hause und der dauernden Konfrontation mit dem Thema Tod entfliehen zu können. Als wir beim Spanier saßen und die ersten Topas bestellten, fragte ich Stefan: „Was war denn los heute, warum bist Du nach der Schule nicht nach Hause gegangen, wie eigentlich geplant?“ Stefan antwortete mit steinerner Miene: „Am Vorabend habe ich ein Gespräch zwischen meinen Eltern mitbekommen, sie unterhielten sich darüber, wie die Beerdigung meiner Mutter ablaufen soll. Danach konnte ich wieder die ganze Nacht nicht schlafen, diese Vorstellung ist einfach zu grausam für mich.“ Ich fragte spontan nach: „Warst Du denn bei dem Gespräch Deiner Eltern anwesend?“ Stefan antwortete mit leiser Stimme: „Nein, ich habe sie belauscht.“ „Ok“, sagte ich, „aber Du selbst weißt am besten, dass Deine Mutter nichts dem Zufall überlässt und alles organisiert, sie hatte ihr leben immer selber in der Hand und wird es deshalb auch selbst beenden.“ „Ich weiß“, sagte Stefan, „dennoch brauche ich nach solchen Gesprächen und Themen einfach Zeit, mit mir selber klar zu kommen. Es wird immer auf mich eingeredet, dass alles gut wird. Aber nichts ist gut, ich bin doch nicht blöd, ich spüre doch, wie bei uns allen die Nerven blank liegen.“ Mit Stefan unterhielt ich mich noch einige Zeit, trotz der späten Stunde. Im Verhältnis zum letzten Treffen wirkte er viel gefasster und ruhiger. Auch kam es mir so vor, als hätte ich einen weit besseren Zugang zu ihm, warum, konnte ich nicht beurteilen. Ich brachte Stefan mit der S-Bahn nach Hause ,ging in mein Hotel und suchte etwas Schlaf. Am folgenden Morgen rief ich Caroline an und schilderte ihr den vorherigen Abend. Sie wusste aber schon alles von Stefan und war informiert. Wir verabredeten ein Treffen für die nächsten Tage, denn Caroline hatte noch Fragen, ich natürlich auch. Die ärztlichen Gutachten lagen nun auch alle vor.

Der Tod kommt unaufhaltsam näher.

26.9.2013

Treffen mit Stefan am 29.09.2013

Nach einigen Rücksprachen traf ich mich heute das erste Mal live mit Stefan.

Da ich beruflich zurzeit extrem eingespannt bin, hatten wir Westerland als Treffpunkt vereinbart. Stefans Eltern setzten ihn in Hamburg-Altona in den Zug und ich holte ihn in Westerland ab.

Dann war es soweit, ich stand in Westerland an Gleis 2 und wartete auf die Nord-Ostsee-Bahn. Endlich traf sie ein und da kam Stefan schon.

Ein fast erwachsen wirkendes Kind im Alter von 11 Jahren. Sein Gesicht markant, sein Wesen wirkt distanziert. Ich ging auf ihn zu und sagte: „Hallo Stefan.“ Er erwiderte trocken: „Hallo Martin.“

Ich wollte ihn eigentlich umarmen, aber mein Kopf blockierte in diesem Moment. So streckte ich ihm nur meine Hand entgegen. Dann fragte ich ihn, ob wir hier im Entree etwas trinken wollen und was er möchte. Er antwortete schroff: „Mir reicht ein Wasser.“ Ich ging an die Theke und bestellte sein Wasser und mir einen Karamell-Macchiato. Der charismatische schwule Kellner, den ich täglich sehe, weil ich immer mir hier jeden Morgen noch einen Kaffee hole, stellte sofort fest: „Du siehst angespannt aus.“ Ich überspielte diese Bemerkung, nahm die Getränke und ging zurück zu Stefan.

Nüchtern und sachlich kam er sofort auf den Punkt und fragte mich, ob er  nun beim Tod seiner Mutter dabei sein dürfe. Ich sagte: „Stefan, ich habe mit mehreren Experten gesprochen, sie sind alle der Meinung, dass es besser ist, wenn Du nicht dabei bist. Wir denken auch, dass dies für Deine Mutter eine zusätzliche extreme Belastung wäre, wenn Du dabei bist.“ Stefan schrie mich an: „Es gehe immer nur um andere, es geht nie um mich.“ Die nebenan sitzenden Gäste des Cafés schauten uns an, mir großen Fragezeichen in den Gesichtern.

Ich sagte zu Stefan: „Lass uns darüber reden. Komm, wir gehen ans Meer.“ Wir ließen unsere Getränke und gingen an den Westerlander Strand, der witterungsbedingt fast leer war.

Stefan begann das Gespräch und sagte: „Martin, ich verliere das Wichtigste in meinem Leben, meine Mama, entschuldige, dass ich Dich angeschrien habe. Ich habe seit Jahren meine Freunde verloren, in der Schule mag niemand etwas mit mir zu tun haben, denn sie können meine schlechte Laune nicht verstehen. Dieses Mitleid, was sie mir geben, hilft mir nicht, ich will kein Mitleid, ich will nur einfach über meine Gefühle sprechen.“ Ich sagte zu Stefan, dass ich ihn gut verstehe. Wir kamen dann wieder auf das Thema Todestag. Er fragte nochmals, ob meine Entscheidung so bleibe. „Ja Stefan“, meinte ich, „Zu Deinem Schutz und für Deine Mutter, denn ich glaube, dass ich mich in diesem Moment nicht um Dich kümmern kann. Es wäre unverantwortlich, Dich den geplanten Tod Deiner Mama mitverfolgen zu lassen.“

Stefan widersprach sogleich und meinte, er wolle sich doch noch verabschieden.

Dann schlug ich ihm folgenden Deal vor: „Ich werde Deine Mama allein begleiten, verspreche Dir aber, dass Du Dich nach der Überführung ihres Leichnams von ihr im Leichenhaus so lange verabschieden kannst, wie Du möchtest. Was hältst du davon?“ Stefan fragte sofort: „Versprichst Du mir das?“ „Ja“, sagte ich, „versprochen.“ Stefan fing an zu weinen, ihm wurde gerade bewusst, dass es unumgänglich ist. In dem Moment nahm ich ihn in den Arm und er ließ sich fallen. Mir liefen selbst die Tränen: dieser unendliche Schmerz eines 11-jährigen Jungen, der weiß, was passieren wird.

Gut, dass es regnete, so sah er mein verheultes Gesicht nicht. Meine Knie waren butterweich.

Ich hatte Angst, das alles nicht durchzustehen. Ich wollte das Projekt, ich wollte sachlich drüber berichten. Jetzt war ich mittendrin, wirklich mittendrin. Ich ließ das dramatische Schicksal an mich heran. Stefan erzählte mir seine Geschichte aus der Sicht eines 11-Jährigen.

Es ist grausam, ob ich diese jemals beschreiben kann, weiß ich nicht. Es ist eine Familientragödie.

Was ich in diesem Moment dachte? Ich dachte an meine Kindheit, wie undenkbar sorgenfrei ich aufgewachsen bin. Ohne Probleme, mein größtes Problem bestand dann, wenn ich wieder mal beim Schwarzfischen erwischt worden war. Mein Gott, welch eine traumhafte Kindheit ich hatte, das wurde mir in diesem Moment bewusster denn je.

Die Stunden am Strand verflogen. Mittlerweile hatte ich eine vertraute Beziehung zu Stefan. Dies bestärkte mich darin, dass der Austausch mit ihm wichtig ist. Wir saßen noch eine Weile stumm im nassen Sand am Strand. Ich war bis auf die Haut durchnässt.

Ich dachte an alles und nichts. Ich versuchte, zu beten. Warum eigentlich ruft man immer nach einem Gott, wenn es Probleme gibt? Eigentlich bin ich doch gar nicht gläubig. Aber ich fand auch in diesem Moment keinen Kontakt zu Gott. Und so fing ich an, ein Zwiegespräch in Gedanken zu führen.

Gott, sollte es Dich geben, dann höre mir zu. Du hast die Kindheit dieses Jungen zerstört. Erbarmungslos und mit aller Gewalt, die existieren kann. Warum? Wählst Du Deine Opfer wahllos aus? Was bist Du für ein Gott, der das alles zulässt? Aber warum unterhalte ich mich mit Dir? Ich glaube, ich lebe besser mit dem Gefühl, dass es keinen Gott gibt. Alles ist Schicksal, willkürlich schlägt es zu, manchmal mehr, manchmal weniger.

Stefan riss mich aus meinen Gedanken und sagte, sein Zug gehe gleich. Wir standen auf und gingen zurück zum Bahnhof Westerland. Ich stieg mit in den Zug ein, da ich nach Hause fahren wollte. Deshalb musste ich versuchen, schnell umzustellen und den Kopf freizubekommen.

Ich wollte und ich werde meine Erlebnisse nicht mit nach Hause nehmen, zumindest werde ich immer versuchen, dies zu überspielen.

Wir stiegen zusammen in die Nord-Ostsee-Bahn ein. Stefan fragte mich: „Welche Musik hörst Du?“ Ich antwortete: „Alles von Klassik bis Rock.“ Er fragte genauer nach und wollte nicht glauben, dass ich z. B. Sido höre. Meine Frage, was daran ungewöhnlich sei, beantwortete er so: „Nichts, mich überrascht nur, dass Du in Deinem Alter so etwas hörst? „In meinem Alter?“, fragte ich nach. „Ja, Du bist doch schon ziemlich alt. „Jetzt konnte ich mir ein Lächeln nicht mehr verdrücken. 🙂 Klar, aus der Sicht eines 11-Jährigen ist man mit 39 Jahren alt, dachte ich mir.

Ich bot Stefan an, etwas mir zusammen anzuhören, und er nahm dies gerne an. Ich spürte förmlich, wie froh er war, einmal über etwas anderes zu sprechen als über den Tod. Ich gab ihm einen meiner Ohrstöpsel und er hörte aus dem Album „Beste“ von Sido die Songs „1000 Fragen“ und „Danke“.

Die Songs passten wie die Faust aufs Auge zu uns, das meinte Stefan zwischendurch und ich bestätige ihm das. Wir schauten uns beide die ganze Zeit an, als würden wir die letzten Stunden nochmals Revue passieren lassen. Einige Stationen weiter verabschiedete ich mich von Stefan, diesmal nicht mit einem kalten Händedruck, sondern ich umarmte ihn. Er sagte nur leise: „Danke Martin.“

Dann fragte er, wann wir uns wiedersehen. „Bald Stefan, schreib mir bitte, wenn Du in Altona angekommen bist“, meinte ich. „Ok“, antwortete Stefan.

Ich stieg jetzt aus und sah, wie Stefan mir am Fenster nachwinkte …

Was für ein Tag, ich musste zunächst einmal mit mir und der Welt klarkommen. Abends kam die Facebook-Nachricht, dass er gut angekommen ist.

17.9.2013

Die Stimme nach Facebook:

Nach meinem letzten Facebook-Kontakt in der Nacht habe ich mich heute mit Stefan das erste Mal am Telephon ausgetauscht. Ich bin sehr traurig, das Gespräch hat mich tief berührt.
Einen 11-Jährigen zu fragen, ob ihm bewusst ist, dass die Entscheidung seiner Mutter nicht mehr rückgängig zu machen ist, war einfach hart.  Mein Gott, wenn es Dich gibt, warum tust Du so was? Wo ist der Sinn ? Wo ist die Logik? Stefan hat am Telefon geweint, geschluchst.
Jetzt kann ich mir vorstellen, wie es wäre, ihn beim Tod seiner Mutter dabei zu haben, wenn er weiß, das dies der letzte Moment in seinem Leben ist,  in dem er seine Mutter noch einmal sieht.
Unvorstellbar ist dieser Schmerz, unvorstellbar auch für mich als 39-Jährigen.
Wie soll ein Kind von 11 Jahren das verkraften? Ich weiß ja selbst noch nicht, ob ich es verkraften werde.

Ich muss nachdenken. Heute habe ich das erste Mal mit meiner Tochter über das Projekt Sterben gesprochen. Ich hab ihr von Stefan erzählt und sie war geschockt, aber trotz allem empfand ich Ihre Reaktion als überraschend nüchtern. Sie sagte, wenn er es möchte, sei es einfach sein Wunsch. Würde er es nicht aus ganzem Herzen wünschen, hätte er nicht nach der Möglichkeit gefragt.

Das einfache Denken einer 13–Jährigen. Sollte ich vielleicht das gesamte Projekt aus dieser Perspektive sehen? Aus der Sicht eines Kindes ?  Ich fragte meine eigene Tochter, wie sie selbst entscheiden würde, wenn ich selbst derjenige wäre, der sterben möchte. Sie fing zu weinen an, kam auf meinen Schoß und sagte: Darüber will ich nicht nachdenken Papa, es steht ja nicht an, also denke ich nicht darüber nach.

Also doch ein Tabu, einfach wegschieben,  einfach zur Seite legen. Der Tod ist nicht aktuell, also beschäftigt man sich nicht damit. Aber es ist doch viel sinnvoller, sich mit einem Thema zu beschäftigen, wenn es zu 100 % irgendwann auf einen zu kommt. Oder ?

Ich muss nachdenken, in meinem Projekt Tod fehlt mir ein roter Faden.
Ich brauche ein Konzept. Ein Konzept, das ich dann durchziehe und basta. Ich darf nicht in Mitleid verfallen und ich bin nicht verantwortlich für das Schicksal. Ich werde in Kürze  wieder mit Stefan sprechen und ein persönliches Treffen vereinbaren.

14.9.2013

Der erste Dritte im Bund:

Ich war überrascht, als ich von Carolines Sohn, er heißt Stefan, eine Freundschaftsanfrage per Facebook erhielt. Eigentlich gehöre ich zu den Menschen, die über Facebook nicht zu viel Privates schreiben. Doch kurz nach der Freundschaftsanfrage kam auch sofort die erste Nachricht von ihm.
Er stellte sich vor, es war fast wie ein Bewerbungsgespäch. Danach schrieben wir fast eine Stunde über das Vorhaben seiner Mutter. Nach kurzer Zeit meinte er, dass er gerne dabei sein möchte.
Mir stockte schon allein bei dem Gedanken der Atem. Darf man einen Jugendlichen beim gewollten Tod der eigenen Mutter zusehen lassen ? Ich weiß es nicht … Hat er als Sohn vielleicht sogar ein Recht drauf? Ich bin völlig verwirrt … Das Projekt Sterben nimmt immer mehr Platz ein in meinem Kopf ein. Es zieht mich in einem unbeschreiblichen Maß in einen Bann, den ich selbst nicht beschreiben kann.
Wer entscheidet, ob ein 11-jähriger Junge seine Mutter beim Sterben begleiten darf ?
Wer verantwortet es?  Nein, nein, ich nicht.
Ich habe ihm geschrieben, dass ich darüber nachdenken muss. Ich kann diese Entscheidung nicht einfach so treffen.
Mein Plan für den Ablauf von Carolines letzten Stunden kommt ins Wanken.
Ich werde mir eine Psychologin zur Unterstützung suchen, ich kann das nicht entscheiden. Zumindest möchte ich jemanden haben, der mir erklären kann, welche Auswirkungen das Erleben des Todes auf einen pubertierenden 11-Jährigem haben kann.
Jetzt suche ich einen Geistlichen, um zu erfahren, warum die Kirche eine so ablehnende Einstellung gegen den Freitod hat, und ich suche eine Psychologin, die entscheidest, ob ein 11-Jähriger den Freitod seiner Mutter erleben darf.